Paris – die Fahrrad-Hauptstadt
Auslandsexkursion vom 3.-5.5.2023Datum 4.7.2023
Viel hat die deutsche Fahrradcommunity in den letzten Jahren von Paris gelesen und über die Bilder gestaunt: Radfahrende entlang der Seine auf vormaligen Autostraßen, die Umgestaltung von Plätzen und Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung. All dies hat uns im Mobilitätsforum Bund im Bundesamt für Logistik und Mobilität (BALM) neugierig gemacht. Der folgende Bericht zur Auslandsexkursion des BALM in die französische Hauptstadt gibt zahlreiche Einblicke in die Radverkehrsmaßnahmen der Stadt Paris.
Der Raum in der Stadt ist für die 2,2 Millionen Einwohnenden von Paris mit ca. 105 Quadratkilometern, etwa ein Viertel der Fläche der Stadt Köln, sehr begrenzt. Diese eingeschränkte Flächenverfügbarkeit spiegelt sich auch in den Kennzahlen des motorisierten Individualverkehrs wider: Nur 15 Prozent der Pariser*innen besitzen ein Auto, und die Zahl der Parkplätze sank in den letzten 22 Jahren um ca. 25 Prozent. In der Stadt gilt grundsätzlich ein Tempolimit von 30 km/h. Eine zulässige Geschwindigkeit von 50 km/h gilt nur in Ausnahmefällen. E-Bikes dürfen maximal 25 km/h fahren, und Radfahrende sind mit mindestens einem Meter Abstand zu überholen.
Vom 3. bis zum 5.5.2023 war es soweit: Zeit, sich die Veränderungen gemeinsam mit Radverkehrsverantwortlichen aus Ländern und Kommunen anzuschauen.
Einen kleinen Eindruck von der Exkursion erhalten Sie auch im Video:
1. Tag – der Plan Vélo
Nach einer Begrüßung und Stärkung im Hotel ging es gleich los: Wir fuhren auf die Rue La Fayette, begleitet von Charlotte Guth, Leiterin Radverkehr im Amt für Straßen und Mobilität der Stadt Paris, und Johanne Collet, Studienleiterin für aktive Mobilität der Institution CEREMA. Dort berichtete Madame Guth zunächst vom übergeordneten Radverkehrsplan „Plan Vélo“ 2021-2026. Dieser wurde auf Basis der Erkenntnisse aus der Corona-Pandemie konzipiert, denn damals wechselten viele Pariser*innen zur aktiven Mobilität. Bis 2026 soll Paris demnach Fahrradstadt werden, und alle Pariser*innen sollen sich für jeden Alltagsweg für das sichere Radfahren entscheiden können. Treibende Kraft zur Umsetzung des „Plan Vélo“ ist die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo.
Die Rue La Fayette wird von den Verkehrsplanenden auch als „Covid-Lane“ bezeichnet, denn während der Corona-Pandemie wurde kurzfristig die Aufteilung der Straße verändert und eine Spur des motorisierten Verkehrs in einen Zweirichtungsradweg umgewandelt (vor Square Montholon). Zuvor konnten Fahrradfahrer*innen lediglich die Busspur mitnutzen. Die verbleibende Spur für Autos wurde durch den Umbau schmaler. Für den motorisierten Individualverkehr (MIV) stand somit auf der gesamten Straße nur noch eine ein- bis zweispurige Einbahnstraße zur Verfügung. Im Zuge der Umgestaltung wurde am Wegesrand zudem eine „Station réparation et gonflage“ (Fahrradreparaturstation) aufgebaut.
Im weiteren Verlauf der Rue La Fayette, in Höhe der Kreuzung Boulevard de Magenta, sind die vormals grün markierten Radspuren sichtbar. Problematisch für eine Umgestaltung des Knotenpunktes sind die doppelten Baumreihen auf beiden Straßenseiten sowie die Topographie, die die Einsehbarkeit der Verkehrswege für Radfahrende und Zufußgehende beeinträchtigen. Es gibt Überlegungen, die Busspuren für Radfahrende zu öffnen, denn Bäume sind in der stark versiegelten Stadt Paris unantastbar.
Eine der Hauptrouten für Radfahrende verläuft entlang des Canal Saint-Martin (Quai de Valmy). An dieser Stelle fahren täglich etwa 16.000 Menschen in beide Richtungen mit dem Fahrrad. Am Abend ist dies ein beliebter Treffpunkt der Pariser*innen. Die Umwandlung dieser Straße gilt als „cheap change“, da sich mit wenigen Veränderungen – Markierungen, Beschilderung und Straßensperren für Autos – sehr viel bewirken ließ.
Der Place de la République war ursprünglich nur für den Autoverkehr freigegeben, der aktuell jedoch nur noch auf einer Seite erlaubt ist. Der Fußverkehr hat auf diesem Platz Vorrang vor dem Radverkehr, der hier nur mit reduzierter Geschwindigkeit queren darf. An dieser Stelle werden Konflikte zwischen den beiden Gruppen von Verkehrsteilnehmenden deutlich, da der Straßenraum nicht weiter separiert und zugeordnet wurde.
Dem Autoverkehr hat die Stadt auf dem Place de la Bastille Raum entzogen und den nicht motorisierten Verkehrsteilnehmenden zur Verfügung gestellt. Dies ist einer der 13 Plätze, die dem „Plan Vélo“ zufolge attraktiver gestaltet und wiederbelebt werden sollen, damit sich dort Menschen aufhalten können.
Die Schulstraße Rue Charles Baudelaire wurde für den Durchgangsverkehr gesperrt, um für Kinder eine friedlichere und sicherere Umgebung zu schaffen. Durch diese simple Maßnahme ist vor der Schule ein grüner, parkähnlicher Ort entstanden, der durch Pflanzen, Bäume und Bänke aufgewertet wird und eine deutlich gesteigerte Aufenthaltsqualität bietet.
Begleitet wurde die Exkursiongruppe von CEREMA, einer öffentlichen Einrichtung unter der Aufsicht des französischen Umweltministeriums: Die Institution unterstützt den französischen Staat und die Gebietskörperschaften bei der Ausarbeitung, Umsetzung und Evaluation der öffentlichen Planungs- und Verkehrspolitik.
Die neuen Erkenntnisse und Impressionen des ersten Exkursionstages bestimmten auch den Austausch am Abend.
2. Tag – die Sicht der Fahrradverbände
Am zweiten Tag veranschaulichte Marie Wehner vom Collectif Vélo Île-de-France die Radverkehrsmaßnahmen in und um Paris aus der Perspektive der Radverkehrsverbände. Das Collectif Vélo Île-de-France bringt 42 Verbände und Vereine zusammen, die rund 8.000 Mitglieder in 160 Gemeinden vertreten. Seit seiner Gründung im März 2019 verfolgt es das Ziel, die Île-de-France zu einer fahrradfreundlichen Region zu machen, in der alle Menschen unabhängig von ihrem Alter und ihrem Können sicher, bequem und effizient mit dem Fahrrad fahren können. Der Radverkehrsverband ist an der Umsetzung eines der größten Fahrradprojekte in der Region Paris beteiligt: dem geplanten Radschnellwege-Netz RER-V.
Aufgrund der guten Anbindung ging es erneut zunächst auf die Rue La Fayette. Betrachtet wurde die Verkehrsführung nun aus Sicht des Verbandes. Als problematisch hervorzuheben sind beispielsweise Kreuzungssituationen, in denen vom Zweirichtungsradweg auf einer Straßenseite (siehe oben) zur Weiterfahrt auf die Busspur auf der anderen Seite der Kreuzung gewechselt werden muss. Die gemeinsame Nutzung einer Spur durch Bus- und Radverkehr führe zudem zu einer Sicherheitseinschränkung der Radfahrenden und zu Effizienzverlusten des ÖPNV, der in Paris ebenfalls Vorrang genieße. Die Option einer erweiterten Aufstellfläche für Radfahrende vor Ampeln („Sas vélo“) wird differenziert bewertet: Während das Collectif Vélo dies kritisch sieht, werteten die Exkursionsteilnehmenden die Aufstellflächen eher positiv, da sie zur Konfliktreduzierung zwischen Auto- und Radfahrenden beitragen können. Ähnlich dem hiesigen Grünpfeil kommen hier kleine rot-weiße Schilder an den Ampeln mit Fahrrad und Pfeilen zur Anwendung: Radfahrende dürfen auch bei roter Signalleuchte in entsprechender Richtung weiterfahren.
Der Quai de la Marne entlang des Canal de l’Ourcq ist mit ca. 20 Jahren einer der ältesten Radwege in Paris und für heutige Verhältnisse relativ schmal. Der weitere Weg in Richtung Parc de la Villette ist mit zahlreichen weißen und teilweise erhöhten Querstreifen auf dem Radweg gestaltet, die zu einer Geschwindigkeitsreduktion beitragen sollen. Dieser Radweg soll Teil einer der Hauptrouten des RER-V-Netzes werden.
Etwas außerhalb von Paris, in Pantin, sind günstige Radverkehrsinfrastrukturmaßnahmen zu sehen, die vorrangig mit Pollern/Sperren und Farbe umgesetzt wurden. So wurde eine geschützte Kreuzung mit Investitionen in Höhe von ca. 50.000 Euro umgesetzt. Eine Verstetigung mit der Umsetzung umfänglicher Infrastrukturmaßnahmen würde die Investitionen erheblich steigern. Die Anzahl der Radfahrenden ist an dieser Kreuzung von rund 450 Personen auf täglich knapp 2.000 Personen gestiegen. Eine vormalige Tram-Strecke ist nun für den Radverkehr freigegeben.
In der Avenue Jean Jaurès sind noch die Markierungen von einem der ersten Pariser Pop-Up-Radwege erkennbar. Ursprünglich waren hier drei Spuren dem Autoverkehr gewidmet – diese wurden dauerhaft auf eine Spur reduziert. Die Parkstreifen befinden sich an dieser Stelle links des Radweges.
Am Canal Saint-Martin machte die Exkursionsgruppe nun auf Höhe der Barrieren Halt, die die Zufahrt von Autos für diesen Streckenabschnitt sperren.
Die folgende Fahrt entlang des Seineufers Quai de Seine war großartig: Die Umfunktionierung der ehemaligen Autostraße für den Rad- und Fußverkehr ist eines der Radverkehrsprojekte mit der größten Strahlkraft über Paris hinaus. Begründet wurde die Sperrung der Straße für den motorisierten Verkehr unter anderem mit dem Denkmalschutz der zahlreichen Gebäude entlang des Kanals.
Ebenfalls weit über die Grenzen von Paris hinaus bekannt ist die Umgestaltung des Straßenraumes der Rue de Rivoli, einer zentralen Verkehrsachse, seit 2020. Auf dieser symbolträchtigen Straße ist nur noch eine Spur für den Autoverkehr freigegeben, die beiden anderen Spuren sind dem Radverkehr vorbehalten. Private Kfz-Fahrten sind in der Rue de Rivoli nicht mehr gestattet. Dies führt auch zu einer deutlich geringeren Lärmbelastung.
Der Place de la Concorde wird zur Zeit umgestaltet und soll auch den Besucher*innen der Olympischen Spiele 2024 mehr Platz zu Fuß und auf dem Rad bieten. Vom Place de la Concorde zur Avenue des Champs-Élysées können Radfahrende den ursprünglich ausschließlich für Kfz zugelassenen Tunnel nutzen: Eine Spur wurde ausschließlich dem Radverkehr gewidmet.
Südlich der Seine, am Quai Anatole France bis zum Quai de Montebello, ist ein gut dimensionierter Zweirichtungsradweg zu befahren. Im weiteren Bereich südlich der Seine steht aktuell noch relativ wenig Radinfrastruktur zur Verfügung.
Der Boulevard de Sébastopol ist einer der meistbefahrensten Radwege (Zweirichtungsradweg) und zeigt, wie Radverkehrsinfrastruktur zu einer Steigerung des Radverkehrs beiträgt: Während hier 2020 noch ca. 8.200 Radfahrende pro Tag fuhren, sind es in diesem Jahr rund 16.000 Radfahrende pro Tag. An einem Streiktag wurden sogar 26.300 Radfahrende gezählt. Der Radweg ist mit dieser Anzahl von Nutzenden überlastet. Es kommt vermehrt zu Stau im Radverkehr, auch aufgrund der unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Radfahrenden. Auch Verengungen des Verkehrsraumes durch Inseln und Einbuchtungen, die zum Teil mit einer Reduktion der Verkehrsfläche um 50 Prozent einhergehen, führen zu Stau.
Zum Ende eines langen Exkursionstages hatten die Teilnehmenden aus Ländern und Kommunen die Möglichkeit, den Abend frei zu gestalten. Viele ließen sich dennoch eine zusätzliche Fahrradrunde durch die Stadt nicht nehmen.
3. Tag – Fahrradverleih und 15-Minuten-Stadt
Nachdem die Exkursionsgruppe in den beiden vorangegangen Tagen viel Zeit auf dem Rad verbracht hatte, startete der Tag mit einem Vortrag von Vélib' Métropole, die uns ihr Fahrrad-Verleihkonzept erläuterten. Vélib' Métropole wurde 2007 gegründet und versteht sich mit seinen 20.000 Fahrrädern und 1.400 Verleihstationen in Paris als Pionier des Bike-Sharing in der Welt. Vélib' Métropole hat sich zum Ziel gesetzt, die neue Mobilität im Großraum Paris zu fördern, und wird vorrangig von den Pariser*innen selbst genutzt. Das leicht zugängliche Verleihsystem ist ein wichtiger Baustein für Paris auf dem Weg zur Fahrradstadt.
Frau Prof.in Dr.in Angela Francke, Inhaberin einer vom BMDV geförderten Stiftungsprofessur an der Universität Kassel, ordnete im Anschluss die Eindrücke der vergangenen Tage in das Konzept der 15-Minuten-Stadt ein. Die Idee der 15-Minuten Stadt stammt vom französisch-kolumbianischen Wissenschaftler Carlos Moreno, der auch die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo berät. Der Grundgedanke basiert auf der Anforderung, dass alle Wege des Alltags mit dem Rad, zu Fuß oder dem ÖPNV in 15 Minuten bestritten werden können. Zur Umsetzung sind Verbindungen und qualitätsmäßige Verbesserungen der sechs wesentlichen städtischen Funktionen erforderlich: Wohnen, Arbeiten, Versorgung, Fürsorge, Lernen und Erholung. Der erforderliche Übergang von einer „monofunktionalen“ Stadt zu einer „polyzentrischen“ Stadt, die auf Nähe, Vielfalt, Dichte und Erreichbarkeit basiert, stellt Stadt- und Verkehrsplanende vor zahlreiche Herausforderungen. Der Weg zu einer lebenswerteren und emissionsärmeren Stadt erfordert in der Verwirklichung auch eine Änderung des individuellen Mobilitätsverhaltens, Anpassungen in der Infrastruktur sowie viel Kommunikation aller beteiligten Parteien.
Abschließend diskutierten wir in der Exkursionsgruppe, welche Erkenntnisse aus Paris für die eigene berufliche Tätigkeit mitgenommen werden können, und erörterten Möglichkeiten, den Austausch auch über die Exkursionszeit hinaus weiterverfolgen zu können.
„Au revoir“ Paris und herzlichen Dank an alle Teilnehmenden, Referierenden und Exkursionsleitenden! Ein besonderer Dank an alle Beteiligten, die die erste Auslandsexkursion des Bundesamtes für Logistik und Mobilität (BALM) mit ihrer fachlichen Neugier und Kenntnis zu einer lehrreichen Veranstaltung für alle haben werden lassen. Das Mobilitätsforum Bund im BALM freut sich auf ein Wiedersehen mit Euch und Ihnen!