"Vom Reifen auf die Füße" - Roland Stimpel von Fuss e. V. im Interview zum Verhältnis von Rad- und Fußverkehr
Themenfokus: Konflikte und Vereinbarkeit von Rad- und Fußverkehr im öffentlichen Raum - InterviewDatum 13.11.2023
Seit 1985 vertritt Fuss e. V., Fachverband Fußverkehr Deutschland mit Sitz in Berlin, die Interessen der Fußgängerinnen und der Fußgänger in Deutschland. Bei allen Fragen zum Fußverkehr ist der Verband Ansprechpartner für Verwaltung, Politik und Öffentlichkeit.
Roland Stimpel gehört dem Bundesvorstand Fuss e.V. an und ist Dipl.-Ing. für Stadt- und Regionalplanung. Er war als Redakteur u.a. bei der Bauwelt, beim Stern und der Wirtschaftswoche sowie als Chefredakteur des Deutschen Architektenblatts tätig und führte 20 Jahre lang ein eigenes Medienbüro. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL) und engagierte sich verkehrspolitisch erstmals seit 1978 in der Bürgerinitiative Westtangente in Berlin.
Wir haben Herrn Stimpel Fragen zum Verhältnis von Rad- und Fußverkehr und zu möglichen Lösungsansätzen gestellt:
- Lieber Herr Stimpel, Sie sind Stadt- und Regionalplaner und bringen Ihr Wissen ehrenamtlich im Vorstand des Fachverbandes Fuss e.V. ein. Im Straßenraum haben Radfahrende und "zu Fuß"- Gehende oft Berührungspunkte. Was sind Ihre Beobachtungen in der Praxis? Welche Herausforderungen sehen Sie?
Wo auf Fahrbahn oder Radweg Rad gefahren wird, ist das für uns angenehmer als Autoverkehr: kein Lärm und keine Abgase und weniger Unfallgefahr, weil die Fahrzeuge langsamer, leichter und schlanker sind. Leider dringt aber das Fahrrad zunehmend in Räume ein, die vom Autoverkehr verschont waren: Geh- und Grünwege, Plätze, Parks und Wälder. Die Herausforderung ist, sichere und entspannte Räume für Gehen, Aufenthalt, Spiel und Erholung zu bewahren. Das sind solche, in denen entweder gar nicht oder nur so Rad gefahren wird, dass weiter Spontanität möglich ist – zum Beispiel freies Herumlaufen von Kindern. Auch Menschen mit Einschränkungen und Angst müssen sich hier sicher bewegen können, vor allem Alte und Leute mit Behinderungen.
- Sie engagieren sich bereits seit den 70er Jahren im Bereich Mobilität. Welche wesentlichen Unterschiede sehen Sie in den Entwicklungen des Fuß- und Radverkehrs in den letzten Jahrzehnten?
Vor 40 Jahren wurden beide weithin unterschätzt. Fürs Gehen gilt das nach wie vor. Radverkehr wird dagegen heute oft überschätzt, indem ihm Wunderwirkung für Verkehrswende, Umwelt und Stadt zugeschrieben wird. In der Praxis geschieht er aber oft nicht alternativ zum Auto, sondern additiv dazu mit ähnlichen Trends wie in den Niederlanden, wo der Radverkehr zugenommen hat, der Autoverkehr aber noch stärker.
- Welche Maßnahmen und Projekte wären Ihrer Meinung nach notwendig, um einerseits Konflikte von Rad- und Fußverkehr im öffentlichen Raum zu lösen und andererseits eine (bessere) Vereinbarkeit zu erzielen?
1. Beide müssen so gut es geht getrennt werden. Dafür braucht Radverkehr das Zuckerbrot guter Fahrbahn-Bedingungen oder eigener Wege und die Peitsche mit deutlich höheren Bußen für Verstöße. Vorbild ist Frankreich mit bis zu 135 Euro für Gehweg-Radfahren.
2. Wo sie ausnahmsweise nicht getrennt werden können, müssen sich vor allem die Schnelleren, potenziell Unfallträchtigeren anpassen und Rücksicht nehmen.
In welcher Stadt/Kommune sehen Sie beispielhafte Entwicklungen (Best Practice)?
In Deutschland noch nirgendwo.
International ist Paris gut dabei: das sehr gute Leihrad-System Vélib mit 20.000 Rädern, die nur in den 1.400 festen Stationen abgestellt werden können. Überall werden Räder angeboten, aber keins stört auf dem Gehweg.
(Anmerkung der Redaktion: Das Mobilitätsforum Bund veranstaltete vom 3.-5.5.23 eine Auslandsexkursion in die Fahrrad-Hauptstadt Paris. Lesen Sie unseren Nachbericht.)
Wo sehen Sie die größten Konfliktsituationen im Straßenraum zwischen Radfahrenden und „zu Fuß“-Gehenden und wie bekäme man die verschiedenen Interessen „unter einen Hut“?
Können hierzu „Shared Spaces“ eine Möglichkeit für umsichtige Begegnungsräume sein?
Die größten Konfliktsituationen sehe ich bei...
1. den legal und illegal befahrenen Gehwegen – oft sind sie ohnehin schmal, befahren werden sie oft zu schnell.
2. den vielen Kreuzungspunkten von Fuß- und Radwegen: Wo sie neu geschaffen werden und stark befahren sind, müssen sie oft zusätzlich zu den bisherigen Fahrbahnen gequert werden. Das ist zwar statistisch nicht sehr gefährlich, aber viele Menschen erleben es so, weil die Bewegung von Radelnden schwerer berechenbar ist, und es seltener als bei Autos den Rhythmus von Pulks und größeren Lücken gibt, der durch Ampeln entsteht. Speziell für Blinde sind Radwege ohne Hilfe gar nicht sicher querbar, weil sie nicht hören, ob jemand kommt.
3. Grünwegen und Parks, die sich vom Erholungsraum zum zielgerichteten Verkehrsraum wandeln. Zugespitzt gesagt: Aus Orten, an denen man möglichst lange bleiben soll, werden Orte, die für schnellstmögliches Wegkommen optimiert sind. So sehen sie oft auch aus.
4. Orten, an denen zu viele Räder geparkt werden. Im Extremfall sind Gehwege unpassierbar und Plätze unbenutzbar.
Shared Spaces sind hierauf, meiner Meinung nach, aber gerade keine Antwort und sind nicht dazu geeignet, die genannten Konfliktsituationen aufzulösen.Es braucht keine Mischung aller Verkehrsarten, sondern eine Trennung. Die bei Shared Spaces nötige Kommunikation und Interaktion können gerade die besonders Vulnerablen nicht leisten – Kinder, Alte, Menschen mit Behinderungen. Sie brauchen Räume, in denen niemand fährt.
Wie sähe Ihre Utopie für "zu Fuß"-Gehen in der Zukunft aus?
Und, lässt sich diese auch realisieren?
Die Utopie: Heutige Prioritäten und Vorrechte auf der Straße werden vom Reifen auf die Füße gestellt. Privilegiert wird viel öfter als heute
1. Langsam vor Schnell.
2. Kurze Wege gegenüber längeren.
3. Die Qualität des Orts gegenüber dem Wunsch nach raschem Durchfahren.
4. Vulnerable vor gut Geschützten mit Karosserie.
Realisierbar ist das nur schwer, weil in Städten und Regionen viele Wege lang und die Lobbys der Auto- und Radfahrenden zu stark sind.
Deutliche Fortschritte wären schon:
1. geräumige, nicht befahrene und beparkte Gehwege,
2. leichter zu querende Fahrbahnen (langsamer befahren, schmaler, an Querungsorten mit Geh-Priorität wie z.B. beim Zebrastreifen),
3. viel weniger Ampeln. Sie werden nur gebraucht, wo schnell gefahren wird; sie benachteiligen und gefährden sogar die Menschen zu Fuß,
4. die anerkannte Priorität von Erholung und Spannung in Parks und urbanem Grün.
Herr Stimpel, wir bedanken uns für das Interview!