Fahrradstraßen im Bezirk Berlin-Mitte
Empfehlungen für die Gestaltung von FahrradstraßenBerlin
17.11.2020
1. Einleitung
Erste Überlegungen zu Fahrradstraßen im Bezirk Berlin-Mitte gab es bereits in den 90er Jahren. In dem in Bürgerbeteiligung 2003 entstandenem Verkehrskonzept "Spandauer Vorstadt" wurden Verkehrsberuhigungsmaßnahmen mit drei Komponenten geplant: Verkehrsberuhigter Geschäftsbereich (Tempo 10, alle Nebenstraßen), Tempo 30 (größere Straßen) und zwei Fahrradstraßen (Linienstraße und Max-Beer-Straße/Rochstraße). In den folgenden Jahren wurden dann die Bausteine des Konzeptes schrittweise umgesetzt. Im Jahre 2008 entstand mit der Linienstraße die erste Fahrradstraße im Bezirk Mitte, der zu diesem Zeitpunkt einen Radverkehrsanteil von 14 Prozent hatte. In den folgenden Jahren wurden zwei weitere Fahrradstraßen im Bezirk eingerichtet, vier sind aktuell kurz vor der Umsetzung. Nach einer längeren Diskussion in der Bezirkspolitik wurde im Sommer 2019 die Linienstraße nochmals umgestaltet und erhielt eine grüne Mittelmarkierung, Sicherheitstrennstreifen, Vorfahrt an einer Vielzahl von Knoten sowie in einigen Abschnitten eine Einbahnstraßenregelung. Im selben Jahr musste durch ein OVG-Urteil das bisher gut funktionierende Geschwindigkeitskonzept verändert werden. Der verkehrsberuhigte Geschäftsbereich Tempo 10 musste umgewandelt werden in Tempo-30-Straßen bzw. Strecken-Tempo-10 in ganz engen Straßen. Grund hierfür ist das Fehlen des Verkehrsschildes Tempo-10-Zone in der Straßenverkehrsordnung (StVO). Alle Fahrradstraßen im Bezirk sind unfallunauffällig.
Was ist eine Fahrradstraße?
Das Zeichen 244.1 der StVO markiert den Beginn einer Fahrradstraße. Soweit sie nicht durch ein Zusatzzeichen freigegeben sind, sind andere Fahrzeuge außer Fahrrädern auf Fahrradstraßen verboten. Es gilt eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h und das Nebeneinanderfahren von Fahrrädern ist erlaubt. Laut VwV-StVO kommen Fahrradstraßen "dann in Betracht, wenn der Radverkehr die vorherrschende Verkehrsart ist oder dies alsbald zu erwarten ist."
Hinweis
Das im Folgenden vorgestellte Praxisbeispiel wurde im Rahmen des NRVP-Projektes "Empfehlungen für die Gestaltung von Fahrradstraßen" erstellt. Die beschriebenen Fahrradstraßen sind eine Bestandsaufnahme und zeigen den aktuellen Stand verschiedener Beispiele in Deutschland. Bei den im Text gemachten Aussagen handelt es sich um die zum Teil subjektiven Einschätzungen der zuständigen kommunalen Planenden sowie die Einschätzung der Autoren, die im Rahmen von Experteninterviews geäußert wurden.
2. Netzbedeutung und zugelassene Verkehrsarten
Damit eine Fahrradstraße mehr als Symbolpolitik ist, muss diese sinnvoll in das Radverkehrsnetz eingebunden sein. So wird die Choriner Straße im nördlich angrenzenden Bezirk Pankow auch dort als Fahrradstraße weitergeführt. Die Rochstraße und die Max-Beer-Straße sind Teil des Radfernweges Berlin–Usedom. Alle umgesetzten und geplanten Fahrradstraßen sind Teil des stadtweiten Fahrradnetzes. Das bezirkliche Fahrrad(Ziel-)netz besteht aus dem Haupt- und Nebennetz der Senatsverwaltung zuzüglich bezirklicher Ergänzungsrouten. Derzeit wird auf Grundlage des neuen Mobilitätsgesetzes ein neues Fahrradnetz für Berlin erarbeitet.
In den Fahrradstraßen des Bezirks ist der Kfz-Verkehr über das Zusatzzeichen "Anlieger frei" erlaubt, Parken ist fast überall beidseitig als Längsparken zugelassen. Die 2019 neu gestaltete Linienstraße ist nun auf großen Abschnitten durch Verkehrszeichen (VZ) 306 Vorfahrtstraße, an einigen Knoten wird die Vorfahrt durch VZ 301 angezeigt. Lediglich an einigen wenigen Knoten besteht weiterhin "Rechts vor Links", an den übergeordneten Straßen besteht Wartepflicht. Um den Schleichverkehr auf der Linienstraße zu reduzieren, wurden auf einigen Abschnitten für den Radverkehr geöffnete Einbahnstraßen eingerichtet. Auf den restlichen Fahrradstraßen ist die Vorfahrt generell durch "Rechts vor Links" geregelt, auch hier besteht an übergeordneten Straßen Wartepflicht (siehe Abb. 1). Aktuell sind die Querungen der Hauptverkehrsstraßen für Radfahrende das größte zeitraubende Problem.
3. Gestaltung
Ursprünglich war die Linie des Senats und des Bezirks, Fahrradstraßen möglichst einfach zu gestalten. Daher wurden in den bestehenden Fahrradstraßen nur Schilder aufgestellt, einfache Piktogramme markiert sowie Gehwegvorstreckungen (vorgezogener Seitenraum) bzw. bauliche "Inseln" in den Eingangsbereichen umgesetzt (siehe Abb. 2). Hintergrund war auch, durch möglichst einfache bauliche Elemente eine zügige Umsetzung von Fahrradstraßen zu ermöglichen. Dies wird sich in Zukunft durch den im April 2020 veröffentlichten Leitfaden "Umsetzung von Fahrradstraßen in Berlin" ändern. Die 2019, vor Veröffentlichung des Leitfadens, aufwändiger umgestaltete Linienstraße bleibt dabei ein Einzelfall, da sie Elemente enthält, die nicht im Leitfaden vorhanden sind (z.B. grüne Mittelmarkierung).
Das Gebiet der "Spandauer Vorstadt" ist als Flächendenkmal ausgewiesen. Dies war ebenfalls ein Grund für die ursprünglich dezente Gestaltung der Linienstraße, die sich so in das übergreifende Gestaltungskonzept eingepasst hat. Dies zeigte sich auch in den sehr kleinen Fahrradstraßen-Schildern.
In der Choriner Straße konnte baulich etwas mehr verändert werden als in der Linienstraße. Im Eingangsbereich gibt es dort immer Fahrradabstellplätze, um die Kreuzungen von parkenden Fahrzeugen frei zu halten. Die Fahrradbügel stehen auf lediglich 5 cm hohen Inseln, die es erleichtern, das Fahrrad darauf zu schieben und dieses dort abzustellen (siehe Abb. 3). Die Gestaltung als Insel ist für die Entwässerung am Straßenbord wichtig.
Bisher wurde auf den Einsatz von Pollern als Quer- oder Diagonalsperren größtenteils verzichtet. Argumente von Feuerwehr, Polizei und Müllabfuhr sprechen gegen eine Gestaltung der Fahrradstraßen als Sackgassen. Lediglich im Bereich des Schendelparks ist die Linienstraße als für Radfahrende frei gegebener Fußgängerbereich gestaltet und durch Poller unterbrochen (siehe Abb. 4), in der Rochstraße gibt es einen "Modalen Filter" (in diesem Fall durch Baken). Insgesamt müssen Diagonalsperren und Schleifensysteme, wie sie z.B. in Kreuzberg existieren, im Bezirk kritisch geprüft werden, da sie auch mehr Verkehr erzeugen können, falls es sich zum größten Teil um Quell-/Zielverkehre im Gebiet handelt. Auf der neu gestalteten Linienstraße wird nun aber auf manchen Abschnitten durch Einbahnstraßen der Durchgangsverkehr reduziert (s. oben).
Am Knoten Linienstraße/Rosa-Luxemburg-Straße ist eine Mittelinsel als Querungshilfe für Radfahrende in der Diskussion (siehe Abb. 5). An der Kreuzung Linienstraße/Rosenthaler Straße bestehen schwierige Sichtbeziehungen, die es zu lösen gilt. Hier ist eine Lichtsignalanlage (LSA) in der Diskussion. Ein Problem ist dort allerdings der kurze Abstand zur LSA an der Torstraße.
Durch die Neugestaltung der Linienstraße im Sommer 2019, die auf Grund der bezirkspolitischen Diskussion erfolgte, erhielt diese neben Vorfahrts- und Einbahnstraßenregelungen ein neues Markierungskonzept. Auf beiden Seiten wurden Sicherheitstrennstreifen ("Dooring-Zone") markiert. Eine grüne, gestrichelte Mittelmarkierung signalisiert den Verkehrsteilnehmenden, dass sie hier auf einer besonderen Straße unterwegs sind, die vorrangig dem Radverkehr dienen soll. In regelmäßigen Abständen ist VZ 244.1 (Fahrradstraße) auf der Straße markiert. Kleine Fahrradpiktogramme wurden zusätzlich, links vom Sicherheitstrennstreifen, in beiden Richtungen markiert, da die "Dooring-Zone" irrtümlich von manchen Verkehrsteilnehmenden als "Schutzstreifen" missverstanden wurden.
Die 2019 erfolgte Neugestaltung war zwischen Fachverwaltung und Bezirkspolitik stark in Diskussion und umstritten. Die Bedenken der Fachverwaltung waren eine "Überinstrumentalisierung" sowie stark erhöhter Aufwand und Kosten bei Herstellung und Unterhalt der Fahrradstraße.
4. Politik, Verwaltung und Bevölkerung
Haupttreiber bei der Einrichtung von Fahrradstraßen waren bisher die bezirkliche Fachverwaltung sowie Vorschläge und Anträge aus der Bevölkerung, von Initiativen und der Bezirkspolitik. Der Senat unterstützt dies durch die Veröffentlichung des Leitfadens und durch entsprechende Inhalte in dem neuen Mobilitätsgesetz. Von Seiten der Bevölkerung gibt es keinen Widerstand gegen die Idee von Fahrradstraßen, vielmehr werden diese sehr gut angenommen. Das Radverkehrskonzept wurde mit Bürgerbeteiligung erstellt, auch zur Umgestaltung von einzelnen Straßen (z.B. Ungarnstraße) oder Kiezen (z.B. Brüsseler Kiez) gibt es immer wieder Bürgerversammlungen und Beteiligungsverfahren.
Aufgrund der geringen Breiten von Fahrgassen und Gehwegen erscheint eine Reduzierung von Kfz-Stellplätzen in manchen Straßen angebracht. Die Wegnahme von Parkplätzen gestaltet sich allerdings in den Straßen schwierig, in denen aufgrund der hohen Dichte ein hoher Parkdruck vorherrscht, wie in der Linienstraße und in der Spandauer Vorstadt allgemein. In der Spandauer Vorstadt wurde deshalb bereits frühzeitig, noch vor Umsetzung des Verkehrskonzeptes, die Parkraumbewirtschaftung eingeführt (siehe Abb. 6).
Vielen Menschen sind die Regeln in Fahrradstraßen nicht geläufig, von Radfahrenden wird zudem häufig Vorrang mit Vorfahrt verwechselt und daher "Rechts vor Links" oft nicht beachtet. In den Fahrradstraßen in historischen Bereichen gibt es aufgrund der engen Straßenraumsituation oft Konflikte, auch unter Radfahrenden. Zu Unfällen kommt es aber nur in seltenen Fällen.
5. Fazit und Ausblick
Der Radverkehrsanteil im Bezirk ist seit dem Jahre 2008 stark gestiegen und beträgt nun 22 Prozent (2018). Die Fahrradstraßen im Bezirk erfüllen ihre Bündelungsfunktionen und werden gut angenommen. Dies belegen eindrucksvoll die hohen Radfahrendenzahlen, insbesondere auf der Linienstraße zur Rush-Hour. Ein großes Problem ist allerdings der insbesondere durch Taxis stattfindende Schleichverkehr sowie der Parksuchverkehr (siehe Abb. 7). In der Linienstraße wurde dieser bereits durch die Einrichtung von Einbahnstraßen reduziert. Durch die engen Platzverhältnisse und die hohe Auslastung durch den Radverkehr kommt es dennoch immer wieder zu Konflikten und Blockaden. Diese Problematik könnte aber voraussichtlich nur durch die einseitige Wegnahme von Parkplätzen gelöst werden. Auch die Querungen der Linienstraße mit der Rosenthaler- bzw. Rosa-Luxemburg-Straße müssen für den Radverkehr verbessert werden.
Im Bezirk sind aktuell etwa zehn weitere Fahrradstraßen in Planung bzw. anvisiert. Dabei ist der Einsatz von gegenläufigen Einbahnstraßen eine Option, falls notwendig, um den Durchgangsverkehr zu verhindern. Dies ist aber im Einzelfall jeweils zu prüfen, um unerwünschte Verlagerungseffekte im Kfz-Verkehr zu vermeiden. Die jetzt neu anzuordnenden Fahrradstraßen werden durchgängig auf Grundlage des neuen Leitfadens geplant.
Falls zukünftig Radschnellverbindungen bis in die Innenstadt geführt werden sollen, sind Fahrradstraßen eine Option. Hier muss man aber aufgrund der schwierigen Platzverhältnisse kompromissbereit sein.
Nachfolgend ein kurzer Überblick einiger Fakten des Bezirks Berlin-Mitte zum Radverkehr:
- Modal-Split Radverkehr: 22 Prozent (2018)
- Anzahl Fahrradstraßen: 3 (5)
- Gesamtlänge Fahrradstraßen: ca. 3 km
- Erste Fahrradstraße im Jahr: 2008
Fahrradstraßen im Bezirk Berlin-Mitte - Bilderstrecke
Evaluation
Nein
Öffentlichkeitsarbeit & Dokumentation
Projektbeteiligte
Übersichtskarte Fahrradstraßen Berlin-Mitte: Karte (das Öffnen des Links kann u.U. etwas dauern)
Folgende Fahrradstraßen wurden von uns befahren:
- Choriner Straße
- Gormannstraße
- Linienstraße
- Max-Beer-Straße
- Rochstraße
Umsetzung von Fahrradstraßen in Berlin - Leitfaden
Folgende weitere Städte wurden im Rahmen des NRVP-Projektes "Empfehlungen für die Gestaltung von Fahrradstraßen" näher betrachtet:
- Bonn (Link fehlt: https://nationaler-radverkehrsplan.de/de/praxis/fahrradstrassen-bonn)
- Dreieich (Link fehlt: https://nationaler-radverkehrsplan.de/de/praxis/fahrradstrassen-dreieich)
- Erlangen (Link fehlt: https://nationaler-radverkehrsplan.de/de/praxis/fahrradstrassen-dreieich)
- Essen (Link fehlt: https://nationaler-radverkehrsplan.de/de/praxis/fahrradstrassen-essen)
- Göttingen (Link fehlt: https://nationaler-radverkehrsplan.de/de/praxis/fahrradstrassen-goettingen)
- Hamburg (Link fehlt: https://nationaler-radverkehrsplan.de/de/praxis/fahrradstrassen-hamburg)
- Kiel (Link fehlt: https://nationaler-radverkehrsplan.de/de/praxis/fahrradstrassen-kiel)
- Konstanz (Link fehlt: https://nationaler-radverkehrsplan.de/de/praxis/fahrradstrassen-konstanz)
- Senftenberg (Link fehlt: https://nationaler-radverkehrsplan.de/de/praxis/fahrradstrassen-senftenberg)
Kommunale Ansprechpartner
Siegfried Dittrich
Bezirksamt Mitte von Berlin
Abt. Weiterbildung, Kultur, Umwelt, Natur, Straßen- und Grünflächen
Straßen- und Grünflächenamt
Bau 3 Stab
Verkehrskonzepte
Karl-Marx-Allee 31
10178 Berlin
030/9018-22707
siegfried.dittrich@ba-mitte.berlin.de
Kommunale Ansprechpartner
Wolf Arnold
Bezirksamt Mitte von Berlin
Abt. Weiterbildung, Kultur, Umwelt, Natur, Straßen- und Grünflächen
Straßen- und Grünflächenamt
Bau 1 400 (komm.)
Untere Straßenverkehrsbehörde
Karl-Marx-Allee 31
10178 Berlin
030/9018-2281
Erscheinungsdatum: 1.12.2020
Autor: Tobias Klein, Difu