CapeReviso - Radfahrende und zu Fuß Gehende auf gemeinsamen realen und virtuellen Flächen
Digitale Werkzeuge zur Konflikterkennung und -vermeidung1.7.2020 - 1.6.2023
Baden-Württemberg
26.10.2020
Ausgangssituation und Projektziel
Urbane öffentliche Verkehrsräume unterliegen ständigem Wandel. Die Planung von Städten und ihrer Infrastruktur ist komplex und von unterschiedlichen Interessen geprägt.
Im Projekt soll ein Werkzeug für die Stadt- und Verkehrsplanung (Planning-and-Decision-Support-Tool) entwickelt werden, um mit Hilfe von Simulationen zu einer verbesserten Entscheidungsgrundlage zu gelangen.
Der Verkehrsraum in Städten muss zwischen allen Verkehrsteilnehmern aufgeteilt und zum Teil gemeinsam genutzt werden. Neben anderen Faktoren wie Kosten und Wegezeit hängt die Wahl des Verkehrsmittels davon ab, ob Mobilität als angenehm oder unangenehm empfunden wird. Großen Einfluss darauf haben Konflikte entlang des Weges und subjektiv empfundener Stress. Die Reduzierung dieser Konflikte ist daher ein wichtiger Baustein zur Förderung des Fuß- und Radverkehrs.
Eine Analyse der Unfälle und Gefahrensituationen mit Beteiligung von Radfahrer*innen und Fußgänger*innen ist aufgrund der geringen statistischen Erfassungen in einem Erhebungsgebiet schwierig. So bleiben gefährliche und konfliktreiche Knotenpunkte und Führungsformen oft unerkannt und bilden ein persistierendes Hemmnis für unentschlossene Radfahrende und zu Fuß Gehende.
Das in diesem Projekt vorgeschlagene Verfahren zielt auf eine Verbesserung von Knotenpunkten und Führungsformen an der Schnittstelle zwischen Rad- und Fußverkehr durch Erfassung der Verkehrssituation mittels Machine Learning und Humansensorik in der Realität und der Simulation zukünftig geplanter Varianten mit Menschen als Probanden in Virtueller Realität und im Living Lab ab.
Akteur*innen
Den Projektpartner*innen Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart (HLRS) und Allgemeiner Deutscher Fahrradclub e. V. (ADFC) geht es um eine methodisch neuartige Bestandsaufnahme sowie um innovative Instrumente für eine evidenzbasierte, konfliktvermeidende Stadtplanung. Sie werden dafür von 2020 bis 2023 vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) mit Mitteln des Nationalen Radverkehrsplans (NRVP) gefördert. Assoziierte Projektpartner sind die Städte Stuttgart, Karlsruhe und Herrenberg sowie ADFC Baden-Württemberg und Herrenberg.
Vorgehensweise
Im Projekt CapeReviso werden digitale Werkzeuge entwickelt, adaptiert, kombiniert und vor Ort angewendet. Dabei sind die Kommunen Stuttgart, Karlsruhe und Herrenberg beteiligt. Dort werden konflikthafte Verkehrsräume gemeinsam mit der Verwaltung identifiziert, an denen die Verkehrssituation anschließend mittels Netzwerkanalysen, Machine Learning und Humansensorik erfasst wird. Diese Verkehrs- und Stadträume werden als digitaler Zwilling nachgebildet. Digitale Zwillinge (Digital Twins) sind digitale Repräsentationen materieller oder immaterieller Objekte, wie z.B. Maschinen, aus der realen Welt, und wurden bisher hauptsächlich im Bereich Maschinenbau eingesetzt. Sie ermöglichen einen umfassenden Datenaustausch und können Modelle, Simulationen und Algorithmen enthalten, die ihr physisches Gegenstück und dessen Eigenschaften und Verhalten in der realen Welt beschreiben. Um eine realistische Wahrnehmung zu ermöglichen und kollaborative und partizipative Prozesse zu unterstützen, können digitale Zwillinge auch in virtueller oder erweiterter Realität visualisiert werden (”Virtual Twins”).
Der Ist-Zustand, Planungsvarianten und Szenarien sowie gestalterische Interventionen des Verkehrsraum werden für Bürgerinnen und Bürger in Form von Visualisierungen oder über Simulatoren erlebbar. Einzelne Alternativ-Szenarien werden im Living Lab umgesetzt, das heißt temporäre räumliche Interventionen wie die Veränderung der Verkehrsführung oder Nutzung der farblichen Markierungen werden realisiert und ihre Auswirkungen mit den gleichen Werkzeugen untersucht wie der vorherige Zustand. Dabei sind die jeweiligen Kommunen stark involviert, aber auch die lokalen ADFC-Gliederungen sind miteinbezogen, um geeignete Verkehrsräume und Interventionen zu lokalisieren.
Als mögliches Living Lab wird der Stuttgarter Marienplatz als zentraler städtischer Platz mit komplexer Ausgangslage betrachtet: Die Hauptradroute 1 des Stuttgarter Radverkehrsnetzes und die im Fußverkehrskonzept der Landeshauptstadt als 2,8 km lange Hauptverbindung für den Fußverkehr 7 treffen mit U-Bahn, Zahnradbahn und Busstationen sowie Taxistandplatz zusammen. Die Stadt Stuttgart ist daran interessiert, diesen Bereich für alle Verkehrsteilnehmer*innen neu zu organisieren, um Gefahren zu reduzieren. Dies macht die bestehende Ausgangssituation sowohl für die Projektpartner*innen als auch für die Stadt Stuttgart als assoziierte Partnerin als Living Lab interessant.
Aktueller Stand
Das Projekt ist im Sommer 2020 gestartet und befindet sich im Herbst 2020 in der Einführungsphase: Die ersten Probanden mit dem OpenBikeSensor sind “on the road” und sammeln Daten für die Karte der konfliktbehafteten Verkehrsräume.
Verbreitung der Ergebnisse und Weiterführung
Die im Projekt entwickelten Methodensets werden als quelloffene Software frei zugänglich gemacht. Dabei handelt es sich um ein Prototypensystem zur Verkehrserfassung, Softwarekomponenten für die Simulation in der virtuellen Realität und eine Beteiligungs-App für Bürger*innen. Die Ergebnisse sollen neben der Wissenschaft, Entscheidungsträger*innen und Ausführenden auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden mittels einer Projekt-Publikation mit Handlungsempfehlungen, eines Abschlussworkshops und Bürger*innen Workshops in den beteiligten Kommunen.
Warum handelt es sich um ein innovatives und nachahmenswertes Beispiel?
CapeReviso nutzt und entwickelt innovative Methoden, um die Entscheidungsgrundlage für Stadt- und Verkehrsplanung zu verbessern und insbesondere Stress aufgrund von Unfällen und Konflikten zu reduzieren. Dazu adaptiert und kombiniert CapeReviso neueste digitale Werkzeuge auf den Einsatzbereich Fuß-und Radverkehr.
Bisher werden Unfälle und Gefahrensituationen dieser Verkehrsarten nicht erfasst, ein passendes Tool dazu gibt es derzeit noch nicht. Um dies zu ändern, soll ein System entwickelt werden, welches die Analyse der Verkehrssituation vor Ort in Langzeituntersuchungen automatisch durchführt. Dieses Erfassungssystem erhebt anonymisierte Metadaten des Verkehrs wie die Art der Verkehrsteilnehmer*innen (Fahrradtypus, Fußgänger* in, E-Roller, etc.) und ihr Verhalten (Fahren, Bremsen, Stehen, etc.). Dazu werden Bilddaten im öffentlichen Raum mit einem neuronalen Netz zur Bilderkennung analysiert. Eine Speicherung der eigentlichen Bilddaten ist dabei nicht notwendig. Um die Verkehrsteilnehmer*innen sicher automatisiert erkennen zu können, wird Maschinelles Lernen eingesetzt. Das Erfassungssystem lernt aufgrund von Trainingsdaten. Während diese für motorisierte Verkehrsteilnehmer*innen bereits vorliegen, müssen Trainingsdaten für Radfahrer*innen und Fußgänger* innen noch erstellt werden. Dazu wird ein Tool entwickelt, in dem händisch exemplarische Bilddaten mit Metadaten verknüpft werden. Für diese zeitintensive Aufgabe wird eine öffentliche Mitarbeitsplattform entwickelt. Interessierte Bürger*innen können mit einer Zeitspende helfen, Trainingsdaten zu erstellen.
Ein weiterer innovativer Ansatz im Projekt CapeReviso ist die Erfassung der Perspektive der Menschen, die zu Fuß gehen oder Radfahren. Zusätzlich zu den anonym erfassten Verkehrsdaten werden detaillierte Daten im Verkehrsgeschehen mit Proband*innen erfasst. Das Projekt Urban Emotions des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) entwickelt Methoden, um Emotionen im urbanen Umfeld für die spätere Berücksichtigung in der Stadt und Raumplanung messbar zu machen. Ergänzend zum Stresslevel lässt sich der physische Abstand zu anderen Verkehrsteilnehmer* innen mit Abstandssensoren messen. Werden Abstands und Stresssensoren mit einer App gekoppelt, können Proband*innen auf ihren täglichen Wegen raumbezogene bzw. georeferenzierte Daten sammeln und sie fallweise bewerten.
In einem zweiten Handlungsstrang des Projekts werden diese Befunde in Anwendungen erweiterter und virtueller Realität überführt. In einer interaktiven virtuellen Umgebung (CAVE) des HLRS werden die untersuchten Räume umgestaltet, etwa durch das Anlegen von geschützten Radfahrstreifen oder eine generelle Veränderung der Verkehrsführung, und dass Verhalten der Nutzer*innen simuliert. In seiner Schlussphase schwenkt das Projekt ins reale Verkehrsgeschehen zurück. Dabei werden ausgewählte Areale in baden-württembergischen Städten zu „Living Labs“ umgestaltet, unter anderem in der Landeshauptstadt Stuttgart. Dort sollen die virtuell entwickelten Ideen für ein konfliktfreieres Miteinander erprobt werden.
Alle entwickelten Methoden stehen zukünftigen Entwickler*innen, Forscher*innen und Anwender*innen als quelloffene Bausteine zur Verfügung. Bereits während der Projektlaufzeit sind Workshops mit Bürger*innen und Vertreter*innen von Kommunen, Verbänden und Forschungseinrichtungen geplant um eine frühzeitige, praktikable und breite Anwendung der der entwickelten Methoden zu erreichen.
Ein wichtiger Baustein ist die Mitwirkung von Bürger*innen im Rahmen von “Citizen Science”, zum Beispiel beim Sammeln und Bereitstellen von Daten. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Beteiligung von Bürger*innen in virtueller und erweiterter Realität. Hier werden die Teilnehmenden aktiv in Planungs- und Gestaltungsprozesse miteinbezogen und die Ergebnisse aus den Beteiligungen in das Projekt integriert. Es wird dabei auf möglichst heterogene Gruppen (Alter, Herkunft, sozialer Hintergrund, Geschlecht) und Menschen, die bei solchen Prozessen selten oder nicht teilnehmen (z.B. aufgrund der Sprache, sozialen Gründen, Menschen mit Behinderung) fokussiert (Stichwort: Inklusion).
CapeReviso - Radfahrer und Fußgänger auf gemeinsamen realen und virtuellen Flächen - Bilderstrecke
Finanzierung
Finanzierung
Bundesmittel, Sonstige
Gesamtvolumen
675.766 Euro
Das Projekt wird vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur aus Mitteln zur Umsetzung des Nationalen Radverkehrsplans 2020 gefördert.
Evaluation
Ja. Die Evaluation erfolgt prozessbegleitend. Die Wirkungsevaluation erfolgt über die Erfüllung von formulierten SMARTen Ziele aufgrund eines definierten Evaluationskonzepts. In der Wirkevaluation wird untersucht, welche messbaren Verbesserungen an den untersuchten und angepassten Knotenpunkten und Führungsformen erreicht werden konnte. Diese Evaluation ist auch Teil des entwickelten Methodensets. Aber auch die Frage, wie es am besten gelingt, lokale Akteure zu einem Einsatz der Methoden zu bewegen ist Gegenstand der Evaluation. Weiter werden alle entwickelten Methoden einer einzelnen Evaluation zugeführt. Entsprechen die messbaren Ergebnisse nicht den Erwartungen, muss geklärt werden, ob die Methode oder die konkrete Umsetzung im Einzelfall dazu geführt hat. Dem Projektbeirat bestehend aus Vertretern von Wissenschaft, Politik, Bürgerinitiativen und Kunstschaffenden wird zudem in festgelegten Abständen über die Fortschritte der Arbeitspakete und die Erreichung der SMARTen Ziele berichtet.
Projektträger & Beteiligte
Projektdurchführende Institutionen
Unternehmen, Universität, Verband, Verein, Private
Projektleitung
Dr.-Ing. Uwe Wössner, Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart (HLRS)
Projektbeteiligte
- Dr.-Ing. Peter Zeile, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
- Saskia Ellenbeck, Allgemeiner Deutscher Fahrradclub (Bundesverband) e.V. (ADFC)
Laufzeit
Dauermaßnahme
Nein
Öffentlichkeitsarbeit & Dokumentation
Projektbeteiligte
www.kit.edu/kit/pi_2020_091_mobilitaet-in-der-stadt-miteinander-oder-in-der-quere.php
Ansprechpartner auf Projektebene
Dr. Fabian Dembski
High Performance Computing Center (HLRS)
University of Stuttgart
Nobelstr. 19
70569 Stuttgart
Erscheinungsdatum: 20.11.2020
Autor: Johanna Drescher (ADFC e.V.), Dr. Fabian Dembski (HLRS), Thomas Obst (HLRS), Dr.-Ing. Peter Zeile (KIT)